Raffinierter urbaner „Etikettenschwindel“
overdose – Raimund Spierlings raffinierter urbaner „Etikettenschwindel“.
Von Thomas Schubert.
Konservendosen sind in der zivilisierten Welt nicht nur nützliche Verpackungen für viele Lebensmittel, durch deren Haltbarmachung haben sie auch den Status von Reservendosen, die insbesondere für die Kriegsgeneration zum Inbegriff von Nahrungsvorräten in Krisen- und Mangelsituationen geworden sind.
„Überlebensmittel“ sozusagen, die in eben dieser überversorgten Zivilisation zugleich unübersehbarer Ausdruck unserer Wegwerfgesellschaft sind. Ihr Weg führt aus den Supermarktregalen in die Vorratskammern und schließlich auf die weltweit wachsenden Müllkippen, wo Konservendosen der Recycling-Reinkarnation entgegenrosten.
Bestenfalls fristen einige von ihnen ein Wurfbudennachleben auf Jahrmarktständen.
Es sei denn, sie begegnen einem wachen künstlerischen Geist wie dem von Raimund Spierling, der ein Faible für gefundene Alltagsobjekte hat und ihnen mit seinen bevorzugten kreativen Mitteln der Collage, Stempeln, Übermalung und Old School Media ein zweites Leben und damit auch ein „Überleben“ schenkt in der Wahrnehmung der Menschen.
„Overdose“ ist sein neuestes Kunstkonzept betitelt, in dem Nahrungsversorgung und Wohlstandsmüllentsorgung einander begegnen. Ein existenzielles Thema, an dem jemand wie der Künstler Raimund Spierling nicht schweigend vorbeigeht, sondern dessen Inszenierung er nutzt, um es plakativ, also lautstark in den öffentlichen Raum und damit zur Diskussion zu stellen. Und das auf Spierlings originäre Weise - konzeptionell kreativ und gestalterisch ebenso ästhetisch wie doppelbödig.
Als Readymades setzen die „overdosen“ dem oftmals grauen urbanen Raum einen farbigen Kontrapunkt entgegen und sorgen als übergroße Botschafter der Konsumgesellschaft und durch Spierlings gestalterische Finesse für eine Belebung desselben.
Spierling recycelt Entsorgtes auf höchst originelle „Pop-Art.“ Der Künstler konserviert dabei nicht nur das für ihn reizvolle grafische Medium des für seine Zwecke vergrößerten Produktetiketts, sondern er konzipiert ihm einen neuen Bedeutungsraum. Die dargestellten Lebensmittel erfahren im Collagen-Kontext eine Umdeutung und werden zu „Lebensmittlern“, die das Flüchtige des Konsums überwinden durch das Bleibende der künstlerischen „Einmischung.“
Das schafft Spierling Raum für differenzierte Standpunkte und Blickwinkel, die er gerne nutzt, um das Gewöhnliche ins Ungewöhnliche zu verschieben. Wo der selbstinszenierte Machtangler Putin zur lächerlichen Gurkenfischerfigur umetikettiert wird oder die Freiheitsikone Nelson Mandela zum symbolischen Elefanten der Beharrlichkeit gegen die Apartheid, schaffen sich pointierte Betrachtungsweisen Platz, die sich dem Wegschauen verweigern, im Gegenteil sogar das Hinsehen erzwingen.
Wenn Spierling aus einer simplen chinesischen Nudel (LIE) die Frage nach Lüge oder Wahrheit herausfordert oder mit einem künstlerischen Zitat der berühmten Campbell’s Tomatensuppe eine Hommage an die Pop-Artisten Andy Warhol und David Bowie vortrefflich gelingt, wächst des Betrachters Lust, sein privates Revier mit einem solchen Statement zu markieren.
Wer genügend Mut hat, öffentlich seinen Sinn für Sinnlichkeit per Sirup-Etikett zu demonstrieren, wird bei Spierling ebenso fündig wie der eher konservative „Erbsenzähler“, der zumindest in seinem Vorgarten mit einer Bonduelle-Dose den Anschein von Progressivität erwecken kann. Auch für ganz individuelle Anfragen und Gestaltungsentwürfe ist der Künstler offen, wie etwa eine Katzenfutterdose oder eine Schweizer Milchbüchse in seiner Nachbarschaft beweisen.
Ein weiterer Clou der Spierling’schen Nahrungsmittelkonservierung ist die „Erleuchtung“, die er seinen Kunstobjekten zuteil werden lässt, damit sie ihre Wirkung nicht nur bei Tageslicht entfalten können. Gemäß des künstlerischen Konzepts bleibt der Inhalt der Dosen lichtüberstrahlt im Dunklen. Die in die stehenden oder liegenden „Overdosen“ integrierten Leuchtmittel machen Konservenobst und- gemüse auch zu äußerst attraktiven Nachtschattengewächsen. Mit der Illumination wird nicht nur das Skulpturenhafte dieser Dosenkunst dokumentiert, die Objekte selbst werden auch als lichte magische Erscheinungen im Dunkel mystifiziert.
Fazit: Künstlerische Klasse, der man den Durchbruch in die bürgerliche Masse wünscht. Eine „Überdosis“ Spierling jedenfalls ist den deutschen Vorgärten, Parks, Spielplätzen und Hinterhöfen ebenso dringend zu empfehlen wie die Ausstellung in Galerien und Museen.
Thomas Schubert
Begriffsdefinition "Etikettenschwindel" (Wikipedia):
Es gibt drei Möglichkeiten des Etikettenschwindels:
1. Lüge: Die bewusste Falschinformation über den Inhalt.
Ein typisches Beispiel war der so genannte Gammelfleisch-Skandal in den Jahren 2005 und 2006; dadurch wurde der Name „Gammelfleisch“ populär und ist seither weit verbreitet. Fleisch mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum wurde nicht vernichtet, sondern mit gefälschten Daten über dessen Haltbarkeit auf den Etiketten erneut in den Handel gebracht. Eine andere Variante ist, Frischfleisch mit Schlachtabfällen und minderwertigem Fleisch zu mischen. Versehen werden diese Fleischwaren mit Etiketten, die nur auf die ursprüngliche, höherwertige Ware hinweisen. Eine weitere Form dieser Art Etikettenschwindel ist die Fälschung von Qualitätssiegeln, die nur verwendet werden dürfen, wenn zur Herstellung und Verarbeitung der Ware genau definierte Qualitätsmerkmale bei Grundstoffen, Herstellungsverfahren und Lagerung angewandt werden. Die Betriebe, die diese Waren herstellen und das Siegel legal verwenden dürfen, werden als Mitglieder durch eigene Verbände und von Amts wegen durch Fachbehörden auf die Einhaltung der dem Siegel zugrunde liegenden Bedingungen laufend überprüft. Waren mit diesen Zertifikaten sind, wegen der aufwändigeren Herstellung, teurer als unkontrollierte Massenware, was Kunden jedoch akzeptieren, wenn sie diesen zugesicherten Qualitäts- und Herstellungsmerkmalen bei einer Kaufentscheidung Priorität vor dem Preis einräumen. Der Gebrauch eines Siegels – sei es durch Fälschung des Originals oder durch täuschende Phantasiesiegel ohne Wert auf dem Etikett – dient also dazu, höhere Preise ohne entsprechenden Mehraufwand bei der Herstellung zu erzielen. Populär und bekannt sind Biosiegel auf Lebensmittel, welche nur solche Lebensmittel führen dürfen, die aus biologischem Anbau ohne verändertem Saatgut, künstlicher Düngung und Schädlingsbekämpfung stammen und dadurch bei der Erzeugung mehr Arbeitsaufwand im Vergleich mit rein ertragsorientiertem Massenanbau erfordern. Ähnlich ist es bei Waren, die durch ihren Namen – Champagner, Münchner Weißwürste, Parmaschinken, Parmesan usw. – auf ein bestimmte Region und ein regionsspezifisches Herstellungsverfahren, -rezept verweisen. Hierbei sind die regionalen Bedingungen und Herstellungsverfahren für viele Kunden als Warenmerkmal und Qualitätsstandard Kaufanreize, die "Trittbrettfahrer" zu unseriösen Falschangaben veranlassen.
2. Verzerrung: Das Überbetonen oder Abschwächen von Informationen.
Ein typisches Beispiel ist das Verschleiern von sehr viel Zucker, indem als Inhaltsstoffe diverse Zuckersorten aufgezählt werden. Eine populäre Verschleierungsmethode besteht darin, Angaben, die zwar vorgeschrieben, aber vom Hersteller ungern genannt werden, so klein und beiläufig wie möglich auf dem Etikett im „Kleingedruckten“ zu platzieren, damit sie nicht ins Auge fallen. Auf Eierkartons sind in der Regel als optischer Aufmacher Hühner im Grünen vor einer Kulisse zu sehen, die das Genre „bäuerliche Idylle“ bedient und artgerechte Produktion andeutet, jedoch nicht einem Produkt der industrialisierten Massentierhaltung entspricht, das vielleicht in der Verpackung ist. Angaben über tatsächliche Haltung und Fütterung der Tiere sind unauffällig untergebracht, oft muss der Käufer zusätzlich wissen, aus welcher Kennziffer des numerischen Warencode nach den Eierkennzeichnungsregeln dies zu erkennen ist.
3. Blendung: Die Vermischung der Inhaltsangabe mit Werbung durch Anpassung in Form und Stil.